Geheimweg ins Internet

Netzsperren: Wie wir mit „Snowflake“ Menschen im Iran helfen können

Eine junge Frau demonstriert in Karadsch im Iran.

Eine junge Frau demonstriert in Karadsch im Iran.

Hannover. Der Iran kommt nicht zur Ruhe: Bei den schwersten Protesten seit 2009 liefern sich Demonstrantinnen und Demonstranten weiterhin landesweit Kämpfe mit den Sicherheitskräften des Regimes, mindestens 76 Menschen sind bislang dabei ums Leben gekommen. Hintergrund der Demonstrationen ist der Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini.

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Die Proteste werden von Sicherheitskräften niedergeschlagen, beklagt etwa die NGO Iran Human Rights. Videoaufnahmen zufolge werde mit scharfer Munition auf Demonstrierende gefeuert. Doch noch ein weiterer Umstand erschwert die Demonstrationen: die eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten.

Die iranischen Sicherheitsbehörden haben das ohnehin schon stark reglementierte Internet nahezu vollständig heruntergefahren, berichtet etwa die Überwachungsorganisation für freies Internet Netblocks. Zahlreiche soziale Netzwerke wie etwa Instagram oder der Messenger Whatsapp wurden seit Beginn der Proteste zusätzlich gesperrt. Dies erschwert den Austausch vor Ort – es verhindert aber auch, dass verlässliche Informationen aus dem Land nach außen dringen.

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Mit Snowflake ins freie Internet

Menschen im Land suchen nun nach Möglichkeiten, diese Sperren zu umgehen – und können dabei möglicherweise auf Hilfe aus dem Westen hoffen. Bereits seit Tagen wird im Netz in vielen Posts und Blogbeiträgen auf eine Anwendung aufmerksam gemacht, die Snowflake heißt. Sie erlaubt, das eigene freie Internet mit Menschen in von Zensur betroffenen Ländern zu teilen.

Besonders häufig verbreitet wird derzeit ein Tweet der Userin @Nonxens, die auf das Programm hinweist. „Der Staat da dreht Leuten grade das Internet ab, und man könnte da einfach helfen. Was brauchts dazu: Ne Internetverbindung (habt ihr, wenn ihr diesen Tweet lest) einen Browser (sowas wie Chrome oder Firefox) und Snowflake“, heißt es in dem Tweet. Auch mehrere Blogbeiträge weisen auf die Anwendung hin.

Im Iran selbst scheint Snowflake ebenfalls auf großes Interesse zu stoßen. Der Google-Suchbegriff „Tor“ wird in dem Land derzeit besonders häufig verwendet, wie die Google-Trends zeigen. Die Anwendung Snowflake basiert auf dem Tor-Netzwerk, das für seine anonyme Datenübertragung bekannt ist und häufig im Zusammenhang mit dem sogenannten Darknet Erwähnung findet. Fast 200.000 Snowflake-User pro Tag gebe es derzeit, berichtet der Deutsche-Welle-Journalist Oliver Linow auf Twitter.

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So funktioniert Snowflake

Was steckt hinter Snowflake? Konkret handelt es sich um eine Browser-Erweiterung, die sich etwa im Mozilla Firefox oder im Chrome Browser installieren lässt. Erfunden wurde sie von der früheren Hackerin, Google-Ingenieurin und heute hauptberuflichen Konzertpianistin Serene. Ist das kleine Programm aktiviert, wird das eigene Internet über das Tor-Netzwerk anderen Menschen zur Verfügung gestellt, die keinen Zugang zum freien Netz haben.

All das geschieht vollkommen anonym: Wer von der anderen Seite das Internet anzapft, kann nicht sehen, auf welchen Seiten Nutzerinnen und Nutzer gerade surfen, geschweige denn lassen sich ihre Daten abfischen.

„Mit Snowflake fungieren wir (...) als sogenannte ‚Proxies‘ und bauen Brücken, die es den Iranern ermöglichen, ins Tor-Netzwerk zu kommen. Dadurch surfen die Benutzer sozusagen über ‚unsere Leitung‘ mit“, erklärt der Informatiker Florian Dalwigk dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Der Clou dieser Technologie: Diese „Brücken“ lassen sich vom iranischen Staat nicht einfach so einreißen. Damit hat Snowflake einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Zensurumgehungsmethoden, wie etwa VPN-Diensten.

VPN-Dienste keine Lösung

Mit VPN, eine Abkürzung für Virtual Private Network, lässt sich die eigene IP-Adresse verschleiern – so können auch gesperrte Internetseiten aufgerufen werden. Das Problem: Die Dienste sind totalitären Staaten und ihren jeweiligen Regimen längst bekannt. Gateway-Adressen von beliebten VPN-Anbietern lassen sich von den Behörden einfach sperren, wie Joachim Selzer vom Chaos Computer Club dem RND erklärt. „Zweitens muss ich darauf vertrauen, dass ein VPN-Betreiber nicht doch mit den Behörden kooperiert, seinerseits Zieladressen sperrt oder – schlimmer noch – Informationen über seine Kundinnen herausrückt.“ Im Iran sind VPN-Dienste generell illegal.

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Auch das Tor-Netzwerk allein hilft oft nicht, um gesperrte Websites aufzurufen. „Da die Knotenpunkte im Tor-Netzwerk bekannt sind, können sie von den Internet Service Providern (ISPs) im Auftrag der iranischen Regierung blockiert werden“, erklärt Florian Dalwigk. Der Iran geht schon seit vielen Jahren diesen Weg und versucht seinen Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zum anonymen Internet zu versperren.

An der Methode Snowflake allerdings dürften sich die Behörden die Zähne ausbeißen – das macht sie so attraktiv. Hier wird das freie Internet von bestenfalls Tausenden und abertausenden Privatnutzern zur Verfügung gestellt, die Behörden sehen somit auch Tausende unterschiedliche IP-Adressen von Privatnutzern, die auf den ersten Blick völlig unverdächtig aussehen.

Schneeflocken lassen sich nicht blocken

„Der iranische Staat könnte nun versuchen, (...) uns als Proxies nacheinander zu sperren, doch mit jedem Routerneustart ändert sich die IP-Adresse, die wir von unserem ISP in Deutschland bekommen“, erklärt Dalwigk. „Wenn viele daran teilnehmen, können die Brücken schneller gebaut als eingerissen werden.“

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Wer die Browser-Erweiterung Snowflake installiert, kann sehen, wie gut das funktioniert. Das Programm zeigt nicht nur die aktive Verbindung an, die sich auch jederzeit wieder ausschalten lässt – es dokumentiert auch, wie vielen Personen schon mit der eigenen Internetleitung geholfen wurde. Wer über eine schnelle Internetleitung verfügt, dürfte selbst von der Hilfe gar nichts merken. Über die Erweiterung gibt man einen Teil seiner Bandbreite ab – im Idealfall macht sich das jedoch bei der eigenen Surfgeschwindigkeit kaum bemerkbar.

Doch ist das ganze System tatsächlich so sicher, wie es derzeit im Netz angepriesen wird? Und lässt sich das Programm nicht auch missbrauchen?

Wie sicher ist Snowflake?

Durchaus, gibt Florian Dalwigk zu Bedenken. „Auch Kriminelle können den Snowflake-Client nutzen, um bei anderen mitzusurfen und illegalen Aktivitäten nachzugehen“, sagt der Informatiker. Dass sich ein solch missbräuchliches Verhalten jedoch auf ganz normale Snowflake-Nutzer, also die Bereitsteller des Internets, zurückführen lässt, hält Dalwigk für äußerst unwahrscheinlich.

Dies habe mit der Architektur des anonymen Tor-Netzwerks zu tun: Hier wird der Verbindungsaufbau über verteilte Knoten geleitet, einem Entry-Point, einem Tor-Node und einem Exit-Node. All das geschieht über eine mehrschichte Verschlüsselung.

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„Als Snowflake-Anbieter bin ich nur der erste Knoten in einer Dreierkette“, erklärt Joachim Selzer vom Chaos Computer Club. „Wenn jemand mit Tor irgendwelchen Unfug anstellt, gehen vor allem die Betreiber der Exit-(Ausgangs-)Knoten ein Risiko ein, weil sie es sind, von deren Adressen das Fehlverhalten scheinbar kommt. Durch die Konstruktion des Tor-Netzes ist es äußerst unwahrscheinlich, dass die Betreiber und Betreiberinnen der Eingangsknoten mit dem illegalen Treiben in Verbindung gebracht werden.“

Wie ist die Rechtslage?

Größere Bedenken sieht der Medienrechtsanwalt Christian Solmecke. Auch er richtet seine Befürchtungen jedoch vor allem an Betreiber sogenannter Exit-Nodes.

„Das Darknet bietet (...) lediglich eine Scheinsicherheit“, sagt Solmecke dem RND. „Als Betreiber des sogenannten Tor-Exit-Nodes sind Nutzer ermittelbar und wurden auch bereits auf diese Art und Weise ermittelt.“ Kriminelle seien bereits zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden.

Doch auch normale Snowflake-Benutzer sollten sich der möglichen Risiken bewusst sein. „Der deutsche Snowflake-Nutzer (...) kann unter Umständen ermittelt werden“, sagt der Anwalt. „In diesem Fall müsste dieser sodann beweisen, dass er nicht der Täter der strafbaren Handlung gewesen ist. Da dies aber in den meisten Fällen für Betroffene kaum möglich sein dürfte, ist die Bereitstellung zwar ehrenhaft, jedoch nicht unproblematisch.“

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Ohne Internet kein Snowflake

Ein weiteres Problem könnten mögliche Sicherheitslücken im Snowflake-System sein. „Einhundertprozentige Sicherheit gibt es (...) nie und so ist es theoretisch möglich, dass jemand eine Schwachstelle findet, mit der die Helfer, also wir, attackiert werden können“, sagt Florian Dalwigk. „Das halte ich in diesem Fall jedoch für ein eher unwahrscheinliches Szenario.“ Grundsätzlich hält der Experte die Browsererweiterung für sicher.

Einen großen Haken hat die Snowflake-Methode jedoch trotzdem: Hilfreich ist sie nur dann, wenn im Iran überhaupt Internet vorhanden ist. Der iranische Staat versteht es in Perfektion, auch zeitweise das gesamte Internet massiv zu drosseln oder gänzlich abzuschalten, sodass weder reguläre Websites, noch VPN-Dienste oder das Tor-Netzwerk benutzbar sind.

Möglich ist das, weil ein Großteil der Dateninfrastruktur auf iranischen Servern liegt. Für die Behörden ist es demnach ein leichtes Spiel, Server abschalten, die Geschwindigkeit drosseln oder den Zugang zu spezifischen Adressen sperren. Das Internet im Land ist ein nahezu abgeschlossenes System.

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Iran blockiert fast alle populären Websites

An der Spitze dieses abgeschotteten Internets steht seit 2012 der sogenannte „Hohe Rat für den Cyberspace“. Laut der Organisation Reporter ohne Grenzen setzt sich dieser aus Politikern und hochrangigen Militärs zusammen. Seine Aufgabe: Das Bereitstellen eines „halalen Internets“, das nur Websites ausspielt, die mit den eigenen Werten übereinstimmen.

Unternehmen im Land wurden in den vergangenen Jahren dazu gedrängt, ihre Aktivitäten auf das sogenannte Nationale Informationsnetzwerk zu verlagern, das über eigene Bankplattformen, industrielle Dienstleistungen und Messaging-Apps verfügt – Dienste, die von den Behörden genauestens überwacht werden können, wie Aktivistinnen und Aktivisten befürchten.

Tod von Mahsa Amini: Weltweite Proteste dauern an

Die 22-Jährige war von der iranischen Sittenpolizei verhaftet worden und unter bisher unklaren Umständen ums Leben gekommen.

Reguläre Websites sind derweil kaum noch ohne Umwege aufrufbar. Ungefähr die Hälfte der 500 meistbesuchten Websites der Welt sind im Iran blockiert. Dazu gehören zum Beispiel Youtube, Facebook, Twitter, Blogger, Telegram, Snapchat und Medium. Auch auf bekannte Streamingdienste wie etwa Netflix können Iranerinnen und Iraner nicht einfach so zugreifen. Ebenfalls routinemäßig gesperrt werden sämtliche Websites, auf denen es um Gesundheit, Wissenschaft, Sport, Nachrichten, Pornografie und Shopping geht.

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Internet nach dem Vorbild Chinas

Joachim Selzer vom Chaos Computer Club glaubt jedoch, dass totale Internetsperren im Iran allenfalls von kurzer Dauer sein dürften.

„Die Frage ist (...), wie lange ein Land auf dem Technologieniveau des Iran auf das Internet verzichten kann. Dafür ist allein schon sein Geschäftsleben inzwischen zu sehr auf internationale Digitalkommunikation angewiesen.“

Wahrscheinlicher scheint Selzer eine Lösung nach dem Vorbild des chinesischen Internets. „Mit einer streng kontrollierten, aber immerhin vorhandenen Auslandsanbindung.“ Solange die vorhanden ist, sei es auch möglich, Dienste wie Snowflake zu nutzen über diese Verbindungen Inhalte zu verteilen, die der staatlichen Zensur nicht gefallen. „Selbst die Great Firewall of China hat Lücken“, sagt Selzer. „Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel, von dem sich jetzt noch nicht sagen lässt, ob und wie es enden wird.“

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