Populäre Rechtsirrtümer in der Schweiz:
VON VERA BUELLER Zuerst hatte Philipp Clementi dem Polizisten ganz freundlich erklärt, dass er nur schnell – «für keine zehn Minuten» – Material aufgeladen und deshalb sein Auto auf dem gelben Streifen abgestellt habe. Doch der Polizist beharrte auf der Parkbusse von 120 Franken. Da platzte dem Parksünder der Kragen und er betitelte den Beamten als «gigantisches stures A…». Er wollte mit seinen Beschimpfungen noch weiter ausholen. Aber eine Passantin hielt ihn zurück: «Seien Sie still! Sonst kommen Sie auch noch wegen Beamtenbeleidigung dran.» Genauso verbreitet – und ebenso falsch – ist die Meinung, dass man im Restaurant Anspruch hat, gratis ein Glas Leitungswasser zu bekommen und das Amtsblatt lesen zu dürfen. Der Wirt kann frei entscheiden, was er wem zu welchen Bedingungen serviert. Er darf auch für ein Glas Leitungswasser Geld verlangen. Die Liste populärer Rechtsirrtümer lässt sich beliebig fortsetzen. Beispiele gefällig?
Von Mord und Totschlag Woher kommen solche juristische Volksmythen? Dieser Frage ist Rechtsanwalt Ralf Höcker für Deutschland in seinen beiden «Lexika der Rechtsirrtümer» nachgegangen (www.ralfhoecker.de). Höcker hat dabei vier Gruppen von Ursachen ausgemacht. Erstens: «Zahlreiche Irrtümer beruhen darauf, dass sich eine Gesetzes- oder Rechtsprechungsänderung in der Bevölkerung nicht herumgesprochen hat.» Wenn beispielweise jemand nach dem Unterschied von Mord und Totschlag fragt, dürfte er meist wohl die Antwort erhalten, dass ein Mord vorher geplant wurde, während der Totschlag aus dem Affekt heraus geschieht. Das war früher einmal so. Heute gilt sowohl Mord wie Totschlag als absichtliche Tötung. Ein Mord liegt erst vor, wenn der Täter besonders skrupellos gehandelt hat, wenn der Beweggrund, der Zweck oder die Art der Ausführung besonders verwerflich ist. Dass Tiere keine Sachen mehr sind, dürfte sich indes herum gesprochen haben. Doch diese Gesetzesänderung hat gleichzeitig zu einem grossen Irrtum geführt: Hartnäckig hält sich das Gerücht, Tiere könnten auch als Erbe eingesetzt werden. Tatsächlich sind Tiere aber nicht erbfähig. Es besteht nur die Möglichkeit, einem menschlichen Erben oder einer juristischen Person (Organisation, Firma) Auflagen zugunsten eines Tieres zu machen. Die dramaturgische Wirklichkeit Eine zweite, äusserst populäre Quelle für Rechtsirrtümer sind amerikanische und englische Filme. Wie eine Untersuchung der Ruhr-Universität Bochum belegt, sind in Deutschland (und wohl auch in der Schweiz) schon kleine Kinder fest davon überzeugt, dass Richter eine Perücke tragen und einen Hammer in der Hand halten – was keineswegs der Realität entspricht. Und niemand stört sich daran, wenn in TV-Gerichtsshows während der Verhandlung ein Überraschungszeuge in den Saal stürmt, womit das Verfahren eine unerwartete Wende nimmt. In der Schweiz müssen sämtliche Zeugen schon lange vor der Verhandlung festgelegt und allen Parteien bekannt gegen werden. Ebenso falsch ist die im Tatort-Krimi immer wieder aufgestellte Behauptung, dass es für eine Hausdurchsuchung eine Bewilligung vom Staatsanwalt braucht. Bei akuter Gefahr ist dies nicht nötig. Ein anderes Beispiel: Bauherren wollen nicht auf Schäden sitzen bleiben, die spielende Kinder auf ihrer Baustelle anrichten. Also hängen sie ganz einfach ein Schild mit der Behauptung auf, dass Eltern für ihre Kinder haften. Dies ist aber nur der Fall, wenn die Eltern die übliche Aufsichtspflicht verletzt haben. Phantasievolles Rechtsempfinden «Eine vierte Gruppe von Rechtsirrtümern beruht schlicht auf Missverständnissen, die zu einer oft phantasievollen Rechtsfortbildung durch die Bevölkerung führen. Wo das Rechts- oder Moralempfinden der Bevölkerung es erfordert, wird unsere Rechtsordnung kurzerhand auch schon einmal um ganze Tatbestände ergänzt», hat Ralf Höcker festgestellt. Für ihn ist der vermeintliche Straftatbestand der Beamtenbeleidigung ein Beispiel dafür. Bei seinen Recherchen ist Höcker überdies die mystische Zahl drei aufgefallen: Dreimal müsse der Arbeitergeber einen Angestellten abmahnen, bevor er ihn entlassen könne. Dreimal müsse man im Restaurant nach der Rechnung fragen, bevor man es ohne zu zahlen verlassen dürfe. Wenn jemand drei Nachmieter nenne, könne er vorzeitig seine Wohnung kündigen. «In der juristischen Wirklichkeit werden sachgerechte Ergebnisse aber nicht dadurch erzielt, indem man Grenzen nach Häufigkeit festlegt», sagt Rechtsanwalt Höcker. Keine Frage, auch ein einziger Fehltritt eines Arbeitsnehmers kann schon gravierend genug sein, um eine Kündigung zu rechtfertigen. Und beim Fall des Nachmieters ist entscheidend, ob er für den Vermieter zumutbar ist. Da genügt es sogar, nur einen einzigen Nachmieter zu stellen.. September 2007
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